Die Stimme der Vernunft 5
Geralt! He! Bist du da?«
Er blickte von den vergilbten brüchigen Seiten der Weltgeschichte von Roderick de Novembre auf, einem interessanten, wenngleich strittigen Werk, das er seit zwei Tagen studierte.
»Ich bin da. Was ist los, Nenneke? Brauchst du mich?«
»Du hast Besuch.«
»Wieder? Wer ist es diesmal? Herzog Hereward höchstpersönlich?«
»Nein. Diesmal ist es Rittersporn, dein Kumpel, dieser Hans-Dampf-in-allen-Gassen, dieser Schmarotzer und Tagedieb, der Priester der Kunst, der strahlende Stern der Ballade und der Liebeslyrik. Wie üblich vom Ruhme umstrahlt, aufgeblasen wie eine Schweinsblase und nach Bier stinkend. Willst du ihn sehen?«
»Natürlich. Er ist doch mein Freund.«
Nenneke zuckte entrüstet mit den Achseln. »Ich begreife diese Freundschaft nicht. Er ist das genaue Gegenteil von dir.«
»Gegensätze ziehen sich an.«
»Ganz offensichtlich. Oh, bitte, da kommt er.« Sie nickte mit dem Kopf in die Richtung. »Dein berühmter Dichter.«
»Er ist wirklich ein berühmter Dichter, Nenneke. Du wirst doch nicht behaupten, dass du seine Balladen nicht gehört hast.«
»Hab ich.« Die Priesterin verzog das Gesicht. »Eben. Nun ja, ich kenne mich da nicht aus, vielleicht besteht sein Talent gerade darin, von ergreifender Lyrik fließend zu obszönen Schweinereien überzugehen. Lassen wir das. Entschuldige, aber ich werde euch keine Gesellschaft leisten. Mir ist heute weder nach seiner Poesie noch nach seinen vulgären Späßen zumute.«
Aus dem Korridor klang perlendes Lachen, ein Lautenakkord, und auf der Schwelle der Bibliothek erschien Rittersporn in einem lila Wams mit spitzenbesetzten Manschetten und einem aufs Ohr geschobenen Hütchen.
Als er Nenneke erblickte, verneigte sich der Troubadour tief und fegte mit der am Hut befestigten Reiherfeder über den Boden. »Meine tiefste Verehrung, ehrwürdige Mutter«, plapperte er dümmlich. »Gelobt seien die Große Melitele und ihre Priesterinnen, die Borne von Tugend und Weisheit . . .«
»Hör auf zu spotten, Rittersporn«, knurrte Nenneke. »Und nenn mich nicht Mutter. Weißt du, bei dem Gedanken, dass du mein Sohn sein könntest, gerate ich in Wut.«
Sie machte auf der Stelle kehrt und ging mit rauschendem Umhang hinaus. Mit einer Grimasse äffte Rittersporn eine Verbeugung nach.
»Sie hat sich überhaupt nicht verändert«, sagte er versöhnlichen Tones. »Sie hat immer noch nicht die Spur eines Sinnes für Scherze. Sie ist mir böse, weil ich bei der Ankunft einen Augenblick mit der Pförtnerin herumgealbert habe, so einer netten Blondine mit langen Wimpern und einem Zopf bis zu dem hübschen Po hinab, in den nicht zu kneifen einfach Sünde gewesen wäre. Also hab ich hineingekniffen, und Nenneke, die gerade vorbeikam ... Ach, was soll’s. Grüß dich, Geralt.«
»Grüß dich, Rittersporn. Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
Der Dichter reckte sich, zog die Hosen hoch. »Ich war in Wyzima«, sagte er. »Ich habe von der Striege gehört und erfahren, dass du verwundet bist. Ich konnte mir denken, wohin du dich zur Erholung begeben würdest. Wie ich sehe, bist du schon gesund?«
»Du siehst richtig. Aber versuch das Nenneke beizubringen. Setz dich, wir wollen uns unterhalten.«
Rittersporn setzte sich und warf einen Blick auf das Buch, das auf dem Pult lag. »Geschichte?« Er lächelte. »Roderick de Novembre? Kenn ich, kenn ich. Als ich an der Akademie in Oxenfurt studierte, war Geschichte die Nummer zwei unter meinen Lieblingsfächern.«
»Was war die Nummer eins?«
»Erdkunde«, sagte der Dichter ernst. »Der Weltatlas war größer, und dahinter ließ sich die Schnapsflasche besser verstecken.«
Geralt lachte trocken, stand auf, nahm die Arkana der Magie und Alchimie von Lunini und Tyrss aus dem Regal und zog ein hinter dem dicken Band verborgenes bauchiges, mit Stroh umwickeltes Gefäß ans Tageslicht.
»Oho!« Die Stimmung des Barden besserte sich zusehends. »Wie ich sehe, sind Weisheit und Inspiration immer noch in den Buchregalen zu finden. Ooch! Das gefällt mir! Aus Pflaumen, nicht wahr? Ja, das ist Alchimie, alles was recht ist. Da haben wir den Stein der Weisen, der das Studium wirklich lohnt. Auf dein Wohl, Bruderherz. Ooch, ist das Zeug stark!«
»Was führt dich hierher?« Geralt nahm dem Dichter die Flasche ab, setzte sie an und begann zu husten, wobei er sich den verbundenen Hals rieb. »Wohin willst du?«
»Nirgendwohin. Das heißt, ich könnte dorthin gehen, wo du hingehst. Dir Gesellschaft leisten. Hast du vor, es dir hier lange gemütlich zu machen?«
»Nein. Der hiesige Herzog hat mir zu verstehen gegeben, dass ich in seinen Ländereien unerwünscht bin.«
»Hereward?« Rittersporn kannte alle Könige, Fürsten, Herrscher und Lehnsherren von der Jaruga bis zu den Drachenbergen. »Pfeif drauf. Er wird es nicht wagen, sich mit Nenneke anzulegen, mit der Göttin Melitele. Das Volk würde ihm die Burg in Schutt und Asche legen.«
»Ich will keine Scherereien. Und ich sitze sowieso schon zu lange hier. Ich reite nach Süden, Rittersporn. Weit nach Süden. Hier finde ich keine Arbeit. Die Zivilisation. Was soll denen hier ein Hexer? Wenn ich nach einer Beschäftigung frage, sehen sie mich an wie ein Wundertier.«
»Was du für ein Zeug redest! Wo soll denn hier Zivilisation sein? Ich bin vor einer Woche über die Buina gekommen, und auf dem Ritt durchs Land habe ich alle möglichen Geschichten gehört. Hier soll es Wassermänner, Winder, Greulen, Flatterer geben, alles mögliche Viehzeug. Du müsstest alle Hände voll zu tun haben.«
»Solche Geschichten habe ich auch gehört. Die Hälfte davon ist entweder erfunden oder übertrieben. Nein, Rittersporn. Die Welt ändert sich. Etwas geht zu Ende.«
Der Dichter nahm einen Schluck aus der Flasche, kniff die Augen zusammen, seufzte schwer. »Fängst du wieder an, über dein trauriges Hexerlos zu jammern? Und dabei zu philosophieren? Ich bemerke die verderblichen Folgen falscher Lektüre. Denn darauf, dass die Welt sich ändert, ist sogar der alte Roderick de Novembre gekommen. Das mit der Veränderlichkeit der Welt ist übrigens die einzige These seines Traktats, der man ohne Vorbehalt zustimmen kann. Aber es ist keine derart originelle These, dass du mich mit ihr überraschen musst, und das mit einer Denkermiene, die dir überhaupt nicht zu Gesicht steht.«
Anstatt zu antworten, nahm Geralt einen Schluck aus der Flasche.
»Ja, ja«, stöhnte Rittersporn abermals. »Die Welt verändert sich, die Sonne geht unter und der Schnaps zu Ende. Was geht deiner Meinung nach noch zu Ende? Du hast von einem Ende geredet, Philosoph.«
»Ich will dir ein paar Beispiele nennen«, sagte Geralt, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte. »Aus den letzten beiden Monaten, die ich auf dieser Seite der Buina verbracht habe. Eines Tages reite ich heran und sehe, da ist eine Brücke. An der Brücke sitzt ein Troll und verlangt von jedem Passanten Zoll. Wenn einer nicht zahlen will, bricht er ihm ein Bein, manchmal auch beide. Ich gehe also zum Dorfschulzen und frage, wie viel gebt ihr mir für diesen Troll. Der Schulze reißt vor Staunen das Maul auf. Was denn, fragt er, und wer soll die Brücke reparieren, wenn der Troll nicht mehr da ist? Der Troll kümmert sich um die Brücke, repariert sie regelmäßig im Schweiße seines Angesichts, gründlich, wie es aussieht. Wir kommen also billiger, wenn wir ihm Maut zahlen. Also reite ich weiter und erblicke einen Gabelschwanz. Nicht besonders groß, von der Nasenspitze bis zum Schwanzende so an die sechs Ellen. Er fliegt da und trägt ein Schaf in den Krallen. Ich reite ins Dorf, frage, wie viel bezahlt ihr für das Mistvieh. Die Bauern fallen auf die Knie, nein, rufen sie, das ist der Lieblingsdrache der jüngsten Tochter unseres Barons, wenn dem eine Schuppe gekrümmt wird, brennt der Baron das Dorf nieder, und uns zieht er die Haut ab. Ich reite weiter und werde immer hungriger. Ich frage nach Arbeit, nun ja, ich bekomme welche, aber was für welche? Dem einen eine Nixe fangen, dem anderen eine Nymphe, dem Dritten ein Scheuweib ... Sie sind völlig verblödet, in den Dörfern wimmelt es von Mädchen, aber die wollen Anderling-Weiber. Wieder einer möchte, dass ich ihm einen Streitling erlege und einen Knochen aus seiner Hand mitbringe, weil der, zermahlen und in die Suppe geschüttet, angeblich die Potenz stärkt . . .«
»Das ist nun wirklich dummes Geschwätz«, warf Rittersporn ein. »Ich hab’s ausprobiert. Es verstärkt überhaupt nichts, und die Suppe schmeckt nach einem Aufguss von Fußlappen. Na ja, wenn die Leute aber dran glauben und gern bezahlen wollen . . .«
»Ich bringe keine Streitlinge um. Noch andere unschädliche Geschöpfe.«
»Dann wirst du hungrig bleiben. Es sei denn, du wechselst den Beruf.«
»Gegen welchen?«
»Gegen irgendeinen. Werd Priester. Du wärst kein schlechter mit deinen Skrupeln, deiner Moral, deinem Wissen um die menschliche Natur und alles andere. Dass du an keine Götter glaubst, dürfte kein Problem sein. Ich kenne wenige Priester, die dran glauben. Werd Priester und hör auf, dich selbst zu bedauern.«
»Ich bedaure mich nicht. Ich stelle Tatsachen fest.«
Rittersporn legte ein Bein übers andere und betrachtete interessiert die abgelaufene Schuhsohle. »Geralt, du erinnerst mich an einen grauhaarigen Fischer, der gegen Ende seines Lebens herausgefunden hat, dass Fisch stinkt und dass es vom Wasser in den Knochen zieht. Sei vernünftig. Gerede und Klagen machen nichts besser. Wenn ich feststellen würde, dass es keine Nachfrage nach Poesie mehr gibt, würde ich die Laute an den Nagel hängen und Gärtner werden. Ich würde Rosen züchten.«
»Du spottest. Zu solcher Entsagung wärst du nicht imstande.«
»Mag sein«, sagte der Dichter und betrachtete weiterhin die Schuhsohle, »vielleicht wäre ich es nicht. Aber zwischen unseren Berufen gibt es einen gewissen Unterschied. Die Nachfrage nach Poesie und dem Klang der Laute wird nie zurückgehen. Mit deiner Beschäftigung ist es schwieriger. Ihr Hexer bringt euch ja selber um die Arbeit, schrittweise, aber unablässig. Je besser und gründlicher ihr arbeitet, desto weniger habt ihr zu tun. Euer Ziel, euer Daseinszweck ist ja eine Welt ohne Ungeheuer, friedlich und ungefährlich. Das heißt, eine Welt, in der Hexer überflüssig sind. Ein Paradox, nicht wahr?«
»Stimmt.«
»Früher, als es noch Einhörner gab, existierte eine recht große Gruppe von Mädchen, die ihre Tugend wahrten, um sie fangen zu können. Erinnerst du dich? Und die Rattenfänger mit den Flöten? Alle Welt war ja scharf auf ihre Dienste. Aber die Alchimisten haben ihnen den Garaus gemacht, indem sie wirksame Gifte erfanden, hinzu kam die allgemeine Verbreitung von Katzen, Frettchen und Wieseln. Die Tierchen waren billiger, lieber und schluckten nicht so viel Bier. Bemerkst du die Analogie?«
»Ich bemerke sie.«
»Dann mach dir die fremden Erfahrungen zunutze. Als die Einhorn-Jungfrauen die Arbeit verloren, ließen sie sich im Handumdrehen entjungfern. Manche, die sich für die Jahre der Entsagung entschädigen wollten, wurden dann für Technik und Eifer besonders berühmt. Die Rattenfänger ... Na, an denen solltest du dir lieber kein Beispiel nehmen, denn sie haben wie ein Mann zu saufen begonnen und sind an den Bettelstab geraten. Nun ja, es sieht so aus, dass jetzt die Hexer an der Reihe sind. Du liest Roderick de Novembre? Wenn ich mich recht erinnere, werden da Hexer erwähnt, jene ersten, die ungefähr vor dreihundert Jahren anfingen, durchs Land zu ziehen. Zu den Zeiten, als die Bauern in bewaffneten Haufen säen gingen, die Dörfer von dreifachen Palisaden umgeben waren, die Händlerkarawanen an den Durchmarsch von Söldnerheeren erinnerten und auf den Wällen der wenigen Städte Tag und Nacht schussbereite Katapulte standen. Denn wir, die Menschen, waren hier Eindringlinge. Über diese Länder herrschten Drachen, Mantikoras, Greifen und Amphisbaenen, Vampire, Werwölfe und Striegen, Kikimoras, Chimären und Flatterer. Und wir mussten ihnen dieses Land Stück für Stück abringen, jedes Tal, jeden Gebirgspass, jeden Wald und jede Wiese. Und das ist uns nicht ohne die unschätzbare Hilfe der Hexer gelungen. Doch diese Zeiten sind vorbei, Geralt, unwiederbringlich vorbei. Der Baron lässt nicht zu, dass der Gabelschwanz getötet wird, denn das ist bestimmt der letzte Drakonide im Umkreis von tausend Meilen, und er erweckt keine Furcht mehr, sondern Mitleid und Nostalgie. Der Troll an der Brücke hat sich bei den Menschen eingelebt, er ist kein Ungeheuer mehr, mit dem man die Kinder schreckt, sondern ein Relikt und eine örtliche Attraktion, dazu noch nützlich. Und die Greulen, Mantikoras, Amphisbaenen? Die sitzen in den Tiefen des Waldes und in unzugänglichen Gebirgen . . .«
»Also hatte ich recht. Etwas geht zu Ende. Ob es dir passt oder nicht, etwas geht zu Ende.«
»Mir passt nicht, dass du Gemeinplätze verbreitest. Mir passt die Miene nicht, mit der du das tust. Was ist mit dir los? Ich erkenne dich nicht wieder, Geralt. Ach, zum Teufel, reiten wir möglichst schnell nach diesem Süden, in diese wilden Gegenden. Wenn du ein paar Ungeheuer erledigt hast, wird dir der Trübsinn rasch vergehen. Und Ungeheuer soll’s dort genug geben. Man sagt, wenn eine alte Frau dort lebensmüde ist, dann geht sie mutterseelenallein in den Wald Reisig holen, ohne den Wurfspieß mitzunehmen. Der Erfolg ist gewiss. Du solltest dich dort auf Dauer niederlassen.«
»Vielleicht sollte ich. Aber ich lasse mich nicht nieder.«
»Warum? Dort kann ein Hexer leichter was verdienen.«
»Das Verdienen ist leichter.« Geralt nahm einen Schluck aus der Flasche. »Aber das Ausgeben schwerer. Außerdem essen sie dort Gerstengraupen und Hirse, das Bier schmeckt nach Pisse, die Mädchen waschen sich nicht, und die Mücken stechen.«
Rittersporn lachte laut auf, den Hintern gegen das Regal gelehnt, gegen die in Leder gebundenen Buchrücken.
»Hirse und Mücken! Das erinnert mich an unsere erste gemeinsame Expedition an den Rand der Welt«, sagte er. »Weißt du noch? Wir haben uns bei dem Festschmaus in Guleta kennengelernt, und du hast mich überredet . . .«
»Du warst es, der mich überredet hat. Du musstest ja aus Guleta verschwinden, was das Pferd hergab, weil das Mädchen, das du unter dem Podium für die Musiker gebumst hattest, vier ausgewachsene Brüder hatte. Sie suchten dich in der ganzen Stadt und drohten, dich zu kastrieren und danach zu teeren und zu federn. Deswegen hast du dich damals an mich gehängt.«
»Und du warst ganz aus dem Häuschen vor Freude, dass du einen Kumpel gefunden hattest. Zuvor hattest du unterwegs nur mit dem Pferd reden können. Aber was soll’s, du hast recht, es war, wie du sagst. Ich musste damals tatsächlich für einige Zeit verschwinden, und das Blumental erschien mir dafür gerade passend. Es sollte ja der Rand der bewohnten Welt sein, ein Vorposten der Zivilisation und des Neuen, der am weitesten vorgeschobene Punkt an der Grenze zweier Welten ... Weißt du noch?«
»Ich weiß noch, Rittersporn.«